by Ulu Braun
featuring: Maximilian Brauer, Susanne Bredehöft, Niina Lehtonen Braun, Gina Lisa Maiwald, Peter Cramer, Paul Bachmann and others
The magical-realist camera follows the trials and encounters of Jonathan as he attempts to fulfill his mother’s final wish: that her ashes be laid to rest at Alexanderplatz, Berlin.
Carrying her blue urn and searching for a suitable location, he attempts to gain permission, assistance, and sometimes merely empathy from his fellow citizens.
From bridges to construction sites, electronics megastores to public fountains, encountering a nun, an artist, and various figures he traces circles around the concrete epicenter of the busy metropolis, revealing a place where commerce, branding, bustle, and tourism overshadow historical landmarks and personal relations.
The private pathos of a son mourning his mother encounters the cold and normalized absurdity of hypercapitalism, history, and everyday city life.
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Aus der Vogelperspektive beobachten wir den Protagonisten Jonathan — der versucht den Wunsch seiner Mutter zu erfüllen, am Berliner Alexanderplatz ihre letzte Ruhestätte zu finden. Unterwegs mit der metallic-blauen Urne und beschattet von einer Nonne, umkreist er das vom Tourismus, Konsum und Lifestyle geprägte Epizentrum der Stadt. Sein Auftrag führt ihn zu ungewöhnlichen Begegnungen mit Bauarbeitern, Passanten und dem Gesetz. Der Tod wird zum Instrument, hinter die verletzliche Fassade von Mensch und Architektur zu schauen.
ULU BRAUN: SATURNE
von Clemens Wilhelm
Berlin ist eine ewige Baustelle, und wie in einer gewaltigen Collage treffen hier die politischen Systeme, Kapitalismus und Kommunismus, architektonisch aufeinander. Seit Jahrzehnten ist das Zentrum um den Alexanderplatz von Baustellen geprägt und wird doch nie schöner. Die Menschen wirken hier sehr klein, es ist ein Ort der gleichgeschalteten Massen.
Unten sieht man immer nur bis zur nächsten Wand – es ist so flach, dass die Proportionen schwinden. Vom Fernsehturm aus aber können die Berliner ihr komplettes Labyrinth erblicken, durch das sie täglich eilen. Die Stadt wirkt von oben entrückt, und zwangsläufig schrumpfen die Menschen und Gebäude zu Spielzeugen oder Modellbau-Landschaften. Genau diesen unwirklichen Blick nutzt Ulu Braun, um mit einem Superzoom-Camcorder, der durch seinen nostalgischen Look aus der Zeit gefallen scheint, seine Protagonisten auf dem Alexanderplatz zu verfolgen. Es wirkt, als wären die Charaktere in die Wirklichkeit collagiert: Die Schauspieler treten im realen Stadtraum auf und interagieren mit unwissenden Passanten, die sie nicht als Akteure wahrnehmen können, da die Kamera unsichtbar ist.
Dieser Blick ist als god’s eye view bekannt, und der Gott dieses Films scheint ein wohlwollender zu sein, der seine Kreaturen durch den Tag begleitet und scheinbar auch führt. Der Betrachter wird zum voyeuristischen Mitwisser dieses göttlichen Erzählers, der zu unterscheiden vermag, wer in dieser paradoxen Realität Schauspieler ist, und wer nicht. Jeder Mensch wird figurenhaft und erscheint als Teil der Inszenierung, und so wird die zufällige oder kreierte Collage aus diesem komischen und kosmischen Blick überdeutlich.
Die Vorhaben der zwei Protagonisten sind schnell erzählt: Ein junger Mann aus den USA namens Jonathan ist in Berlin eingetroffen, um die Asche seiner Mutter am Alexanderplatz zu verstreuen. Seine Mutter scheint ausgewandert zu sein, und als letzten Wunsch geäußert zu haben, nach ihrem Tod nach Berlin zurückzukehren. Die Kombination von Asche, Emigration und Alexanderplatz erzeugen eine Vielzahl von geschichtlichen Assoziationen. Der sonderbare junge Mann wirkt wie ein verlorener Narr oder kommunistischer Phantast. Er irritiert die Berliner durch seine kindliche Zuneigung und fordernde Direktheit, wenn er Bauarbeiter um Erlaubnis fragt, ob er die Asche auf der Baustelle des Stadtschlosses verteilen dürfte, oder wenn er mit der Polizei einer Python in einer Baugrube nachspürt.
Die zweite Protagonistin ist eine katholische Nonne, die in die Großstadt gekommen ist, um ein Handy zu kaufen. Sie ist mit den Angeboten des Kapitalismus konfrontiert und vom Fortschritt sichtlich überfordert. Sie staunt über die Schuhe im Nike-Store und kollabiert fast, nachdem sie zum ersten Mal eine Coca Cola probiert. Ihre Glaubenswelt und der neoliberale Kapitalismus scheinen unvereinbar, ihre Missionsversuche an den Städtern verhallen.
Berlin erscheint in diesem Film als ein traumartiger Kosmos, in dem sich alle Figuren planetengleich auf ihren Bahnen bewegen, und einem ungreifbaren Sinn oder einer mystischen Logik folgen. Die Planeten der berühmten Weltzeituhr aus dem Kosmoszeitalter der sowjetischen Raumfahrt begegnen dem Technik-Konsumtempel Saturn. In der Astrologie des Mittelalters war der Saturn ein Symbol der Melancholie und des Unglücks sowie auch der Ordnung und Beständigkeit. Und überhaupt hat der Film eine spirituelle Dimension, eine Reihe von religiösen Symbolen erscheint: eine Schlange wird gesichtet, eine weisse Taube steigt auf, ein Fisch fällt vom Himmel und Blut, Milch und Wasser mischen sich. Glocken läuten, Gebete und apokalyptische Verse werden gemurmelt, und sphärische Klänge begleiten einen Ballon, der in den Himmel entgleitet. Der Babylonische Turm, er könnte auch hier am Alexanderplatz stehen, neben Saturn und Neptun, in dieser urbanen Collage. Männliche und weibliche Elemente umkreisen sich in diesem Film. Andere Elemente aus Ulu Brauns früheren Filmen tauchen auch in “Saturne” auf: Der ewige menschliche Bautrieb und die kapitalistischen Stadtkulissen aus “Architektura” begegnen den urzeitlichen und hermetischen Parallelwelten der Stadtvögel aus “Birds”.
In etwa der Mitte des Films begegnet der „Sonderling“ einer Künstlerin, die gerade den neobarocken Neptunbrunnen malt. Er gerät über die Malerei derart in Verzückung, daß er ihr Gemälde auf die Wasseroberfläche des Brunnens legt. In diesem Moment bricht der Film: Die Künstlerin gerät darüber in Rage, kollabiert mit Nasenbluten, und flüchtet vor dem Sonderling. Daraufhin wäscht er sich im Brunnen ihr Blut von den Händen, in den auch kurz zuvor die Nonne eine Flasche Milch fallen lässt. Dieser fast alchemistische oder schamanische Vorgang, der von verwirrten Touristen bestaunt wird, vermischt alle Elemente des Films, verweist vielleicht auf einen tieferen schicksalhaften Sinn, und kündigt die bevorstehende Katharsis an:
Jonathan wird im Telekom-Shop, genau in dem Moment, als die Nonne ihre Handy-Kaufberatung erhält, aus Ungeschick die Urne seiner Mutter fallen lassen. Der Wunsch der verstorbenen Mutter geht somit schicksalshaft in Erfüllung. Der Luftballon steigt in die Sphären über Berlin, während der Staub der Geschichte durch die Baustellen weht. Und Berlin bleibt Berlin, sich ewig wandelnd ohne sich erklären zu müssen.
with: Maximilian Brauer, Susanne Bredehöft, Niina Lehtonen Braun, Gina Lisa Maiwald, Peter Cramer, Paul Bachmann, Valentin Lorenz, David Ristau and others
Script: Maximilian Brauer, Ulu Braun
Camera: Kai Herrmann, Florian Gwinner
Editing: Ulu Braun, Kai Herrmann
Sound: Jochen Jezzusek, Felix Andriessens
Music: Fritz Rating, The Whole Other, Felix Andriessens, Patric Catani
Co-produced by: Niina Lehtonen Braun, Maximilian Brauer
Assistance: Lisa Baumgarten, Ella Hebendanz
produced and directed by Ulu Braun